Eine plausible Utopie

Es stimmt: Die autoritäre Wende ist in vollem Gange. Die Abwertung von nach Herkunft, religiöser Überzeugung, Geschlecht, sexuellen Vorlieben oder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bestimmten Gruppen von Menschen greift um sich. Sie wird offen ausgesprochen. Gewalt gegen die so Abgewerteten wird gefordert und geübt. 

Diese etwas altertümlich aber treffend als Rechtsruck beschriebene Entwicklung muss gestoppt werden. Wehret den Anfängen! Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn manche sich nur darauf konzentrieren. Zu viel Schreckliches passiert bereits, zu viel Macht haben reaktionäre Kräfte schon gewonnen, als dass zuschauen und lamentieren reichen würde. Zu erfolgreich sind sie, als dass gesagt werden könnte, irgendjemand vergeude ihre Kräfte dabei, ihnen entgegen zu treten. 

Es stimmt: Die Errungenschaften der Arbeiterbewegung werden im globalen Norden wieder zurückgebaut. Sie setzten an den Dienstverhältnissen zwischen Kapitalisten und Proletariern an, also werden Dienstverhältnisse vermieden, durch Technologie sinkende Transaktionskosten machen es möglich. Und sogleich beklagt, dass Dienstverhältnisse vergleichsweise zu teuer wären. Noch ein Schuss Demographiehysterie dazu und der Sozialstaat gilt als unfinanzierbar, alternativlos scheint der Weg zurück in Verhältnisse rücksichtsloserer Ausbeutung.

Hier nachzugeben vergrößert nicht nur die Armut, der real existierende Kapitalismus wird so auch insgesamt weniger leistungsfähig. Nichts ist dagegen einzuwenden, sich nur darauf zu konzentrieren, die gegen übermächtigen Widerstand erkämpften Sicherheiten zu verteidigen, es ist ein harter Kampf der Hartnäckigkeit und Geschlossenheit erfordert.

Es stimmt: Unser sorgloser Umgang mit Energieträgern ist im Begriff, die Lebensgrundlage künftiger Generationen auf der Erde zu zerstören. Die jungen Menschen, die wöchentlich deshalb statt zur Schule auf die Straße gehen, sind weder hysterisch noch naiv. Wir, die wir nicht in Panik geraten, sind gegenüber diesem Prozess offensichtlich bereits so abgestumpft, dass wir zwar mit besorgter Miene aber ohne ihn auch nur annähernd ernst genug zu nehmen, in den Abgrund laufen. 

Und als ob unser im wörtlichen Sinne brandgefährliche Eingriff in das Erdklima nicht schon für sich im Zuge wäre, riesiges Leid zu verursachen, schädigen wir unsere Umwelt auch noch darüber hinaus in mannigfacher Weise: Wir vergiften die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, die Pflanzen und Tiere die wir essen. Und auch die, die wir nicht essen, der Vollständigkeit halber.

Wenn wir nicht heute entscheidend umkehren, wird das Leben künftiger Generationen in vielerlei Hinsicht schlechter sein als das unsere. Nicht für die meisten relativ, wie aufgrund wieder ungleicherer Verteilung. Sondern für alle absolut. Es ist nichts dagegen einzuwenden, sich nur darauf zu konzentrieren. Noch viel mehr als bei der Verteidigung unser aller politischer wie wirtschaftlicher Freiheit ist hier eine fokussierte Vorgehensweise notwendig, wenn überhaupt eine Chance bestehen soll. Hier droht auch kaum Gefahr, den status quo bloß verteidigen zu wollen. Zu bewusst ist denen, die den Wahnsinn überhaupt noch wahrnehmen, dass wir so wie bisher nicht weitermachen können.

Überall Abwehrschlachten: Gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, gegen das Zurückdrehen der verteilungspolitischen Erfolge und gegen den Weltuntergang. Sprachlich kann man das positiv formulieren: Für universale Menschlichkeit, für Gerechtigkeit, für eine lebenswerte Umwelt. Aber der abzuwehrende Angriff, die drohende Gefahr  bleibt im Blickmittelpunkt, schon weil die Verteidigung sonst kaum gelingen kann.

Es ist auch grundsätzlich legitim, Argumente und Taten zu kritisieren, ohne selbst eine bessere Idee zu formulieren. Das gilt auch für unsere Situation am Beginn des dritten Jahrtausends: Veränderung an sich ist weder gut noch schlecht, und auch ein unbefriedigender Zustand ist gegen seine Verschlechterung zu verteidigen.


Doch ebenso wahr ist, dass noch lange nicht alles erreicht ist, was wir erreichen können. Dass wir mitnichten in der besten aller möglichen Gesellschaften leben. Dass da noch ganz viel Luft nach oben ist. Schon deshalb tut es neben der Abwehr der Reaktion auch Not, für eine positive Veränderung, für eine in jeder Hinsicht freiere Gesellschaft und eine nicht nur uns nicht tötende sondern uns befruchtende Natur einzutreten, zu streiten, zu handeln. 

Mit der Verteidigung des bereits Vorgefundenen oder Erreichten kann sich kein wacher Geist zufrieden geben. Das wäre nicht nur zu wenig, gemessen an unseren Möglichkeiten. Es ist auch eine Taktik, die zum Scheitern verurteilt ist. Tatsächlich scheitert sie vor unseren Augen: Sie ist bedauerlicher Weise das einzig wahrnehmbare Programm vieler aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Parteien Europas und vieler ihrer mehr oder weniger eng verbundenen Mitstreiterinnen. Sie wurde zutreffend kritisiert als inoffizieller Wahlspruch: "Wählt uns, mit uns wird es langsamer schlechter" (ich hab's von Robert Misik, der seit Jahren in eine ähnliche Kerbe wie dieser Beitrag schlägt, vgl statt vieler zB diesen Text) . Das darf uns nicht nur dem Anspruch nach niemals genügen. Eine progressive Bewegung wird damit zu einer konservativen Kraft und versagt auch dabei. Sie versagt in der Sache und sie verliert demokratische Zustimmung.

Das hat eine ganze Reihe von Ursachen, doch nicht die kleinste ist, dass es uns schwer fällt, mit vollem Einsatz gegen etwas aufzutreten. Gegen etwas gibt es keine Begeisterung, es gibt Wut dagegen, Furcht davor, und Verzweiflung angesichts. Begeistern können wir uns nur für etwas. Für ein Ziel, das wir erreichen wollen. Für eine Geschichte des Fortschritts. Eine Geschichte, die heute beginnt, die in die Zukunft führt und in der wir uns auf das nächste Kapitel freuen. Eine plausible Utopie.


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