Real existierender Kapitalismus

Oje. Ein Marxist.

Warum bezeichne ich die Gesellschaftsorganisation, in der wir leben, so gerne und auch auf dieser Seite als real existierenden Kapitalismus?

Zunächst Kapitalismus:

Erstens, weil ich damit offenlege, dass Marx' und Engels' Gedanken dazu mich geprägt haben. Das ist redlich gegenüber interessierten Leserinnen genauso wie gegenüber solchen, die beschließen, dass das ein Ausschlusskriterium ist. Unsere Zeit ist beschränkt. Wenn jemand ausweist, die Überlegungen Josef Stalins oder Ayn Rands für besonders aufschlussreich zu halten , freue ich mich auch, weil dann lese ich das nur, wenn ich mich gerade an so etwas herausfordern oder belustigen will, nicht, weil ich glaube, dass ich da viele anschlussfähige Gedanken finde. Was sich selbstredend auch als Irrtum erweisen kann, aber unsere Zeit ist eben beschränkt.

Zweitens, weil sich niemand dafür zu schämen braucht, die Kritik der politischen Ökonomie ernst zu nehmen. Es ist immer noch weit verbreitet, die Zuschreibung Marxist herabsetzend zu verwenden. Das wird sich nicht ändern, wenn wir diesen Einfluss verleugnen.

Drittens, weil es ja einen Grund hat, warum wir vom Kapitalismus sprechen. Das ist schon ganz gut auf den Punkt gebracht mit der Beschreibung der "kapitalistischen Produktionsweise" und auch mit der Unterscheidung von Kapitaleignern und doppelt freien Arbeitern. 

(So gut, dass manche, die "den Marxismus" fürchten, hassen oder verabscheuen, sich selbst stolz Kapitalisten nennen. Freilich nicht im Sinne Marx' bezogen auf die eigene Position im Produktionsprozess sondern im Sinne einer ideologischen Selbstverortung, das von Marx als Kapitalismus bezeichnete Wirtschaftssystem eben nicht überwinden zu wollen. Das muss man auch einmal hinkriegen: Zustände so treffend zu beschreiben, dass diejenigen, die sie nicht ändern wollen, das Vokabular der Ankläger übernehmen.)

Wobei die Argumente gegen die Aktualität der Kritik der politischen Ökonomie schon ernst zu nehmen sind. Diejenigen, die am zunehmenden Anteil des Dienstleistungssektors ansetzen, überzeugen mich kaum. Bezogen auf die sogenannte Digitalisierung hat aber zB Michael Seemann hier ein paar gute Fragen aufgeworfen.


Auch aber keineswegs nur deshalb wird der Begriff also qualifiziert, ich bemühe mich stets vom "real existierenden" Kapitalismus zu sprechen:

Erstens schon wegen der affirmativen Kraft des Wortes Realität. Gerade jenen, die den Begriff als überholt ablehnen, möchte ich klar entgegenhalten, dass er und die Schriften von Marx und Engels uns noch einigen Aufschluss darüber geben, weshalb wir in den bestehenden Verhältnissen weder frei noch gleich sind.

Zweitens (und oberflächlich betrachtet entgegengesetzt) wegen der schönen Parallele zu Sowjetunion und anderen sich als sozialistisch selbstbezeichneten Wirtschaftsordnungen. Das verfängt eher nur bei denen, die dem Argument aufgeschlossen sind, dass Sozialismus und Stalinismus vielleicht keine deckungsgleichen Begriffe sind, und die an dieser Stelle darauf gestoßen werden, dass vielleicht in den Industrienationen auch nicht alle in der Kritik der politischen Ökonomie beschriebenen Mechanismen greifen.

Drittens und mit dieser Erkenntnis verbunden, weil die Qualifizierung darauf hinweist, dass wir nicht von einer starren Ordnung reden. Die Wirtschaftsordnung in Österreich in den Zehnerjahren unseres Jahrhunderts unterscheidet sich in mannigfacher Hinsicht massiv von jener, die wir in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wahrnehmen konnten. Von jener zB in Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen. 


Diese Vielfältigkeit und Wandlungsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise ist beidseitig interessant: 

Einerseits sehen wir daran, dass auch große Veränderungen bei der Verteilung des Mehrwerts oder der Rücksicht auf die Natur noch keine Systemveränderung sind und die Zwänge nicht aufhebt. Vielleicht sind sie auch deshalb nicht zwangsläufig in eine Richtung führend.

Andererseits weil sie ermöglicht zu sehen, dass auch unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise unterschiedliche Grade an individueller Freiheit, an kollektiver Selbstbestimmung (vulgo: Demokratie), an Sicherheit, an Rücksicht auf die natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens und so weiter möglich sind. 

Von dieser Erkenntnis ist der Weg zur Streitfrage, ob Fortschritte innerhalb des Kapitalismus zu befürworten oder abzulehnen sind, nicht weit. Zu dieser möchte ich den nächsten Beitrag schreiben.

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